Stigmatisation

1811 wurde das Kloster Agnetenberg infolge der sog. Säkularisation (Aufhebung der Klöster und Enteignung des klösterlichen Besitzes ab 1803) aufgehoben. Anna Katharina fand Unterkunft als Haushälterin bei dem ebenfalls aus dem Kloster verwiesenen Klosterpriester Abbé Martin Lambert, einem während der französischen Revolution aus Frankreich emigrierten Geistlichen. Sie konnte den Haushalt nur ein halbes Jahr führen, denn sie erkrankte so schwer, dass sie bis zu ihrem Tod 1824 fast ständig ans Bett gefesselt war. Immer wieder war sie in den letzten zwölf Jahren ihres Lebens dem Tode nahe. War sie nun nicht in den mit so viel Energie verfolgten Lebenszielen gescheitert? Hilfe für andere war ihr so wichtig, nun war sie selbst zu einem Objekt der Hilfe geworden. Mit großem Einsatz hatte sie ihre Heimat im Kloster gesucht, nun war sie daraus verwiesen. Konnte sie unter diesen Umständen an Ihrer Vorstellung von dem liebenden Gott festhalten? Wider alle Erwartungen nahm sie das ihr zugewiesene Schicksal an, sah sich mit ihrem Leiden in Solidarität mit dem am Kreuz leidenden Christus und in Solidarität mit den vielen Leidenden in der damals so von Krankheiten und Kriegen heimgesuchten „sterbensreichen Zeit“.

Geblieben ist ihr die Möglichkeit zum Gebet. Und so trägt sie all die Leiden, die Schuld der Menschen an diesem Leiden: den damals so dramatisch zunehmenden Verlust an Glauben, betend Gott vor und sieht in ihren Bildern des am Kreuz leidenden Gottessohnes, wie die Sünden der Menschen ihrer Zeit dem am Kreuz Leidenden Wunden zufügen. In diesen Betrachtungen erfährt sie ihre Stigmatisation.

Schon vor dem Eintritt in das Kloster war Anna Katharina beim Gebet vor dem Kreuz in ihrer bildlichen Wahrnehmung gleichsam Zeugin des Leidens Christi am Kreuz geworden. Ergriffen von dem Schmerz des am Kreuz Leidenden hatte sie darum gebeten, ihm etwas von dem Schmerz abnehmen zu können. Tatsächlich spürte sie am eigenen Körper Schmerzen der Wundmale Christi (innere Stigmatisation). 1812 entstanden aus diesen Schmerzen offene Wundmale: an Händen und Füßen, an der Brust, am Kopf. „So war sie, die so viele Stunden bei Tag und Nacht vor den Stationsbildern des Leidensweges Christi und vor den Kreuzen am Wege gebetet hatte, nun selbst wie ein Kreuz am Wege geworden“, so hat Clemens Brentano erkannt, wie ihr meditierendes Suchen nach der Nähe Gottes einen körperlichen Ausdruck fand.

Durch eine Indiskretion wurde die Stigmatisation öffentlich bekannt. Das wurde damals zu einer sensationellen Nachricht, die zu einer schnell einsetzenden Publizität der damals selbst in Dülmen kaum bekannten Nonne führte. Für Anna Katharina war das ein großes Unglück, denn sie, die Gebet und Meditation, die Zwiesprache mit Gott gesucht hatte, wurde nun der Öffentlichkeit preisgegeben. Bei den Untersuchungen, 1813 durch eine kirchliche Behörde, 1819 durch eine staatliche, wurde sie Tag und Nacht von fremden Männern bewacht. Man konnte keinen Betrug nachweisen. Anna Katharina hätte diese Publizität vermarkten können. „Ich weiß“, sagt Cramer, der Erzpriester von Holland, in seiner Schrift über Emmerick, „dass derselben von hier aus ansehnliche Summen zum Geschenk geboten sind, dass sie aber diese jederzeit ausgeschlagen hat.“ Sie wehrte sich entschieden dagegen, von den einen als Heilige verehrt, von anderen als medizinische Sensation angesehen, von wieder anderen als Betrügerin gebrandmarkt zu werden.

Nun begann Anna Katharinas Leben in der Öffentlichkeit: Neugierige wollten sie sehen, Wundersüchtige berühren, Skeptiker ihre angebliche Betrügerei entlarven, Ärzte die medizinische Sensation untersuchen, Kranke, Leidende suchten ihre Hilfe, ihr Gebet, ihren Trost. In der Zeit, die ihr blieb, nähte sie an Sachen für die Armen.

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